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Mariä Verkündigung am Bürgersaal zu München

Eine Weihnachtsbesinnung von P. Karl Kern SJ, München

Mittwoch
24. Dezember 2025

Widerstand aus Liebe
P. Rupert Mayer SJ (1876 – 1945), ein Zeuge des Menschgewordenen

Am 1. November 1945 hatte P. Rupert Mayer um 8.00 Uhr die Frühmesse begonnen. Während seiner Predigt in der Kreuzkapelle der Münchner Jesuitenkirche St. Michael stockte er plötzlich, wollte weiterfahren, doch mitten im Sprechen erlitt er einen Schlaganfall und konnte nur noch dreimal mit letzter Kraft „der Herr“ wiederholen. Durch sein Holzbein abgestützt, das er seit einer Amputation im Ersten Weltkrieg trug, blieb er aufrecht am Altar stehen. Knapp drei Stunden später starb er. „Pater Mayer ist auch im Tod nicht umgefallen“, hieß es dann in München.

Ein aufrechter Mann des Widerstands

Rupert Mayer wurde im Ersten Weltkrieg als Feldseelsorger mit höchsten Orden dekoriert. Er befand sich immer an vorderster Front, um seinen Kameraden beizustehen – meist unter Lebensgefahr. Im Herbst 1917 kehrte der Beinamputierte nach München zurück. Es drängte ihn in dieser Zeit epochaler Umwälzungen weiterhin an die sozialen Frontlinien. Er stellte sich mutig den ideologischen Auseinandersetzungen mit Kommunisten und Nationalsozialisten.
Von Anfang an durchschaute Rupert Mayer den völlig überzogenen Nationalismus Hitlers und den um ihn betriebenen Personenkult. Er, der deutschnationale Patriot, bekämpfte unerschrocken die Überbetonung des Völkischen und wehrte sich gegen die Abwertung und Ablehnung des Alten Testaments.
Der Jesuit hat das totalitäre System der Nazis nie von einer politischen Analyse her kritisiert, sondern betonte immer seinen rein religiösen Standpunkt. Die Gegenseite, eine pseudoreligiöse, totalitäre Ideologie, durchschaute sehr wohl, dass er mit seinem Einspruch im Grunde das ganze System der „neuen Ordnung“ infrage stellte. Ist dieser rein religiös motivierte Widerstand nicht seltsam aus der Zeit gefallen und fern von uns heute?

Heutige Totalitarismen

Die totalitären Systeme des Nationalsozialismus und des Kommunismus sind untergegangen. Doch aus dem Haupt der Medusa wachsen heute neue Totalitarismen hervor. Die Politik der Großmächte diktiert wieder das Geschehen. Kleinere Autokraten höhlen die Demokratie in ihren Ländern aus. Die globale Klimakrise gefährdet zunehmend unseren Planeten.
Unsere hochindustrielle, weltweit vernetzte Gesellschaft ist zunehmend einem universalen Funktionalismus unterworfen. Jürgen Habermas hat schon 1981 von der „Kolonisierung der Lebenswelt“ gesprochen. Sport, Bildung, Gesundheit, Kunst, Medien, Freizeit werden vom funktionalen Nutzenkalkül durchdrungen – bis in die persönlichen Beziehungen hinein. In galoppierender Beschleunigung überformen die namens- und gesichtslosen Algorithmen alle Lebensbereiche.

Gottesbezug als transfunktionaler Bezugspunkt

Gibt es einen Fixpunkt außerhalb dieses funktional festgelegten, durch mächtige Konzerne gesteuerten Systems? Oder landen wir im schwarzen Loch des Funktionalismus? Vielleicht brauchen wir gerade heute, wo der Glaube an einen jenseitigen Gott verdunstet, umso nötiger einen transfunktionalen Bezugspunkt, damit die Welt nicht aus dem Ruder läuft. Für Rupert Mayer war das sein Gottesbezug, sein Glaube an den Menschgewordenen.
Der christliche Glaube fußt auf dem jüdischen Monotheismus. In der jüdischen Tradition wurde schon immer der eine, bildlose Gott als Gott des eigenen Volkes verehrt. Im babylonischen Exil (597-536 v.Chr.) erkannten geistig wache Juden, dass die Götter der Völker letztlich rein funktionale Götter waren – vom Menschen gemachte Götzen, die den eigenen Interessen dienten. So erwuchs der jüdische Monotheismus im 6. Jahrhundert aus der Religionskritik. Der Gott Israels ließ sich weder funktionalisieren noch vereinnahmen. Auf seine Stimme zu hören, ihm restlos zu vertrauen, war das Entscheidende.
Dieser Gottesbezug war für Rupert Mayer der archimedische Punkt, von dem her alle universalen Machtansprüche relativiert werden mussten. Wahre Religiosität bedeutet auch heute, dem nicht fassbaren Gott der Liebe zu vertrauen, der seine Gegenwart aufblitzen lässt, der sich jedoch zugleich allem Greifbaren entzieht.

Die Theo-Politik Jesu

Jesus hat politische Obertöne vermieden. Er war davon beseelt, dass Gott schon jetzt – in einem besetzten Land, inmitten einer zerrissenen Gesellschaft – seine Königsherrschaft antreten kann, wenn man sich voller Zutrauen auf ihn einlässt. Der Rabbi aus Nazareth hat geahnt, dass die labile Situation in seinem Land auf eine gewaltsame Katastrophe zutrieb. Dennoch blieb er bei seiner Friedensvision des barmherzigen „Abba“, der seine Sonne aufgehen lässt über Gerechte und Ungerechte.
Diese Botschaft von der nahen Gottesherrschaft stellte das herrschende System des Arrangements der Oberschicht mit der Besatzungsmacht von innen her infrage. Jesus konnte vor allem suchende junge Leute an sich binden, doch der anfängliche Massenzulauf bröckelte. Er selbst blieb trotz allem seiner radikalen Friedensvision treu.

Das Szenario der Weihnachtsgeschichte

Die Weihnachtsgeschichte (Lk 2,1-14) inszeniert in den ersten Versen den universalen römischen Machtanspruch: Der Kaiser lässt Steuern einziehen, denn er braucht das Geld vor allem für seine Legionen. Der „Friedenskaiser“ Augustus hatte schließlich das römische Weltreich durch militärische Gewalt stabilisiert. In dieser römisch geprägten Welt geschieht eine neue Offenbarung des jüdischen Gottes. Hirten auf dem Feld erfahren als Erste die unerhörte Botschaft: In einem jüdischen Kind ist der wahre Herrscher der Welt geboren!
Über der dunklen Geburtsszene erstrahlt plötzlich von oben her ein Licht. Engel stehen für eine Botschaft aus dem Jenseits. Und es geschieht, was die ganze Bibel durchzieht und zusammenhält, es geschieht Offenbarung: Gottes Gegenwart blitzt auf und entzieht sich zugleich. Doch es bleibt der Hinweis auf ein Zeichen – auf das Wickelkind im Futtertrog. Die Szene klingt aus im Lob des jenseitigen Gottes und der Verheißung des Friedens für „Menschen seines Wohlgefallens“.

Der menschliche Gott

„Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten“ (Tit 2,11), so fasst Paulus die Weihnachtsbotschaft zusammen. „Gnade“ ,„Zu-Neigung“, meint die entgegenkommende, grenzenlose Liebe Gottes. Sie hat sich geoffenbart im „Sohn“. Das war für Paulus die entscheidende „Zu-Erkenntnis“ zu seinem jüdischen Glauben – ihm schlagartig zuteil geworden mit der Vision des Auferstandenen vor Damaskus. Und es hatte sich in sein Inneres eingebrannt: Dieser Sohn ist für die ganze Welt da, denn er ist das Urbild jedes Menschen. Er soll die ganze Menschheit Gott, dem Vater, entgegenführen.
Der menschgewordenen Liebe Gottes in ihrem „Abstieg“ zu den Menschen fühlte sich Rupert Mayer ein Leben lang verpflichtet. 1912 kam er als 36jähriger Jesuit nach München, um sich der – monatlich etwa 2000 – vom Land Zugezogenen anzunehmen, die meist der blanken sozialen Not ausgesetzt waren. Täglich machte er in den Abendstunden 5 bis 6 Hausbesuche, um ihre Sorgen und Nöte zu erfahren und in den 30 Münchner Gemeinden Hilfe und Heimat anzubieten. Für diese „nachgehende“ Seelsorge gewann er viele Mithelfer.

Der 15. Nothelfer Münchens

In den krisengeschüttelten 20er Jahren nahm Rupert Mayer seine sozial ausgerichtete Seelsorge wieder auf. Sein Sprechzimmer in St. Michael war tagsüber belagert von Hilfesuchenden. Abends wurden dann bis spät in die Nacht die entsprechenden Bittbriefe geschrieben. Auf einem Fragebogen, den er 1938 bei der Einlieferung in die Haftanstalt Landsberg ausfüllen musste, gab er als Motivation für seinen Beruf an: „…aus Liebe zu den Menschen“.
Rupert Mayer hat in seiner ganzheitlichen Seelsorge die Würde jedes Menschen gestützt. Auch in kommunistischen Veranstaltungen verwies er auf die unsterbliche Seele jedes Menschen, die man nie vergessen sollte. Jesus hatte ihm die vorbehaltlose Liebe Gottes zu jedem Menschen vorgelebt – bis zum Tod. Der Ordensmann war ebenfalls ein Zeuge der universalen Menschenfreundlichkeit Gottes.

Die Liebenswürdigkeit des Christentums

Die Zeit zwischen den Weltkriegen war eine Epoche der Not, der Gärung und der Hoffnung auf Rettergestalten. Wir erleben gerade wieder eine Zeit der Umbrüche – in rasendem Tempo. Die KI-Revolution steht erst am Anfang. Solche Zeiten machen die Menschen unruhig, nervös und hektisch. Falsche Heilsbringer haben wieder Konjunktur und Sündenböcke werden leicht ausfindig gemacht.
Das erlebte auch Rupert Mayer zu seiner Zeit. Doch er hatte durch seinen Glauben an den liebenden Gott ein klares Gegenmittel: Das heilsame Geschenk bedingungsloser Liebe! „Wir müssen uns jetzt ganz darauf einstellen, dass wir immer geduldiger, freundlicher und rücksichtsvoller werden, weil die Menschen so unruhig und aufgeregt sind. … die müssen wir beruhigen und ihnen die Liebenswürdigkeiten des Christentums zeigen.“

Frieden und Versöhnung

Die Engel verkündeten in Betlehem den „Frieden auf Erden“ – für Menschen „göttlichen Wohlgefallens“. Als Jesus am Beginn der Passionswoche auf einer jungen Eselin vom Ölberg herabritt, begannen seine Jünger laut zu rufen: „Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn. Im Himmel Friede und Ehre in der Höhe!“ (Lk 19,38). Beim Anblick der Stadt weint Jesus über Jerusalem. Der Weihnachtsfriede scheint entschwunden – bis heute.
Dieser Friede lebte in Menschen wie Rupert Mayer. In den wenigen Nachkriegsmonaten, als er wieder predigen durfte, legte er den Menschen die Feindesliebe, die Versöhnung und den Mut zu einem Neuanfang ans Herz. Menschen mit der Friedensvision Jesu im Herzen können auch heute Schritte des Friedens wagen und der funktionalen Vereinnahmung widerstehen!
Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, sagt ein Sprichwort. Sich dem unergründlichen Gott vertrauensvoll auszusetzen, gibt auch heute die innere Widerstandskraft, um nicht im Strudel des Funktionalen unterzugehen. Den Menschgewordenen ins eigene Herz aufzunehmen, kann auch in uns Hoffnung und Liebe reifen lassen. Menschen göttlichen Wohlgefallens sind heute nötiger denn je!